Herr M.

Er sitzt vor mir wie ein Häufchen Elend. Starrt auf den Tisch. Auf seine blutigen Hände. Knibbelt, zwirbelt die Haut seiner Finger immer und immer wieder durch. Auch seine Lippen sind blutig gebissen.

Ich habe Herrn M. heute aus der Gruppe gezogen. Seit Beginn der Gruppe sehe ich ihn in seiner Ecke sitzen, leise, schweigsam, angespannt. Sehe ihn auf den Lippen kauen, sehe, wie jede einzelne Stunde eine Höllenqual ist für den armen Kerl. Im Verlaufe des Gesprächs wird er langsam ruhiger. Das Zupfen der Hände, was ich mir nur mit Mühe ansehen kann, lässt nach. Mit leiser Stimme erzählt er. Ein bisschen aus der Therapie. Ein bisschen aus seiner Familie. Alkohol, Drogen, Gewalt, Missbrauch. Das volle Programm. Seine Flucht aus dem Elternhaus. Seine krankheitsbedingte Rückkehr dorthin. Seine Nächte voller Alpträume, seine Tage voller Angst. Seine grenzenlose Wut, die manchmal durchschlägt. Und sich gegen ihn oder andere richtet.

Im Bericht steht „Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, Typ Borderline“. Ich sehe in erster Linie einen Mann, der zutiefst traumatisiert ist. Der mich auf die Aussage, dass seine Art, auf Belastungen zu reagieren, vollkommen normal ist, erstaunt anschaut. Er sei doch verrückt, das würden alle sagen. Aber offenbar habe ich den Schlüssel gefunden. Er erzählt mir von den vielen vergangenen Nächten, in denen er Methoden suchte, sich das Leben zu nehmen. Von seiner Planung, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Von jedem Tag, an dem er am Bahnhof vorbeiläuft und überlegt, ob genau jetzt der Zeitpunkt wäre, sich vor den Zug zu werfen. Und von der doch noch vorhandenen Sorge, dass er es tatsächlich bald machen wird.

Innerlich fahren alle Notfallpläne hoch. Äußerlich bleibe ich so gelassen wie zuvor. Dass solche Gedanken vorkommen können, erkläre ich ihm. Dass auch das in seinem Rahmen normal sei – aber eben auch die Gefahr bestünde, dass er seine Pläne in Taten umsetzt. Und ich mir deswegen sehr große Sorgen um ihn mache. Er zupft an den Händen. „Und was machen wir jetzt?“, frage ich ihn. „Weiß nicht.“ Ich erkläre ihm, dass ich Bedenken habe, ihn nach Hause zu schicken. Dass ich wahrscheinlich nicht ruhig schlafen könnte, wenn ich weiß, dass er sich vielleicht etwas antut. Und eigentlich eine Klinik zur Stabilisierung der beste Ort wäre. Von der Alternative, dass ich dann nur noch zwangsweise in die Klinik bringen kann, sage ich noch nichts. Ob er einen anderen Vorschlag habe. Wir sind fast im gleichen Alter, manchmal rutscht ihm versehentlich das „Du“ heraus. Und ich setze darauf, dass er nicht möchte, dass ich nachts wachliege. Der Plan geht auf. Nach zehn Minuten willigt Herr M. ein, eine psychiatrische Klinik aufzusuchen. Da sowieso gerade Mittagspause ist – und ich außerdem sicher gehen möchte, dass Herr M. jetzt sofort auch in der Klinik ankommt – biete ich mich als Fahrdienst an. Begleite ihn in die Klinik bis zur Station, bis zu dem Moment, wo ihn der diensthabende Arzt in Empfang nimmt. Verabschiede ihn im Arbeitszimmer und bitte ihn, mich auf dem Laufenden zu halten.

Ich glaube nicht, dass er in die Maßnahme zurückkommen wird. Zu groß ist der Druck, zu instabil sein seelisches Gleichgewicht. Aber ich hoffe, dass ich irgendwann erfahre, was aus ihm geworden ist. Ob und wo die Hilfen, die wir in der Woche begonnen haben, in die Wege zu leiten, ihn hinführen. Ich wünsche ihm ein neues Leben. Eines, in dem er mit der Vergangenheit abschließen kann. Eines, in dem er nicht nur über-lebt hat, sondern lebt.

Ein Gedanke zu “Herr M.

  1. Hallo Seelenflickerin,
    du musst ein sehr einfühlsamer Mensch sein! Sicher anders als diejenigen, mit denen Herr M. bislang zu tun hatte. Ich lese ein wenig heraus, dass Herr M. auch mit dem/den bisherigen Therapeuten nicht so richtig weiter kam. Wie kommt es, dass gerade du erkannt hast, dass er eigentlich normal veranlagt, aber schwer traumatisiert ist?

    Die Einwilligung, in eine Klinik zu gehen, ist ein wichtiger Schritt. Und die Einwilligung des Klienten zu erreichen, eine Leistung. Ich kenne Menschen, für die die psychatische Klinik die absolute Niederlage darstellen würde. Zu gering die Hoffnung, dass einem da wirklich geholfen wird, eher nur eine „sichere Aufbewahrung“ für ein paar Tage oder Wochen, verbunden mit dem Gefühl, in der „Klappse“ gelandet zu sein.

    Ich kenne selber mehrere Menschen, die latent, manchmal auch akut suizidal sind. Und ich kenne das Gefühl, dann nichts wirklich unternehmen zu können. Manchmal erzählen sie mir davon, unter meiner Zusicherung, keine Klinikeinweisung zu veranlassen. Aber ich weiß, dass sie mir den „letzten Schritt“ nicht ankündigen werden.

    Ich bin kein Therapeut, muss also nicht „von Berufs wegen“ emotionale Distanz wahren. Aber wie geht es dir damit? Du hast ja deine Empfindungen auch gegenüber Herrn M. deutlich ausgesprochen.

    LG, Ismael

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